Kann gesunde Ernährung psychisch krank machen? Die Wissenschaft sagt ja und gibt dem Phänomen einen Namen: Orthorexie. Auf den Spuren eines Wahns zwischen Wohlstands- und Leistungsgesellschaft.
Seit 2014 hat Orthorexie ein Aushängeschild: The Vegan Blonde. Jordan Younger, die Frau hinter dem Blog, hat akribisch ihren Weg in den Veganismus notiert und Tausende Menschen inspiriert. Was aus den vorbildlichen Blogbeiträgen nicht hervorgeht: Durch ihre penible Auseinandersetzung mit Ernährung schnürt Jordan das Korsett immer enger. Am Ende isst sie frei von allem, Gluten, Öl, Zucker, Mehl, Saucen, verboten. Eines Tages geht in einer Juicebar ausgerechnet jener Smoothie aus, den sie sich zu konsumieren zugesteht. Sie bricht in Panik aus und verkündet öffentlich ihr Leiden an orthorektischem Verhalten.
Wenn gesundes Essen krank macht
Allgegenwärtige Informationen zur Ernährung, besonders in Zusammenhang mit Krankheiten und Leistungsfähigkeit, beeinflussen uns in unseren Essensentscheidungen. Orthorektiker*innen beschäftigen sich mehrere Stunden am Tag mit der Zubereitung, der Beschaffung und dem Konsum von möglichst gesunden Speisen. Qualität um jeden Preis ist die Devise und diese führt in Extremfällen in soziale Isolation. Gemeinsame Mahlzeiten und Kneipenabende mit Freund*innen werden ausgeschlagen, Lebensmittel verteufelt und Mangelerscheinungen diagnostiziert. Unter dem Deckmantel ökologischer und qualitativer Aspekte bleibt Orthorexie oft unerkannt, verbreitet ist sie dennoch mehr denn je.
Dieser Artikel ist zuerst in unserem Salzburger QWANT.Magazin 09/2019 erschienen. Hol dir jetzt dein Gratis-Abo!
Healthy is the new skinny
Im FrauenGesundheitszentrum Salzburg kann man davon ein Lied singen. Junge Frauen können sich hier in Fragen zu seelischer, sexueller und physischer Gesundheit beraten lassen. „Früher kamen Mädchen hierher, wenn sie Anzeichen von Magersucht aufgewiesen haben. Heute erklären sie uns zuerst lange und ausgiebig ihr gesundes Essverhalten“, weiß Aline Halhuber-Ahlmann, Politologin und Geschäftsführerin des FrauenGesundheitszentrum dazu. Was sie außerdem beobachtet: dass viele Patient*innen ausgerechnet über vegetarische und später vegane Ernährung in die Orthorexie schlittern. Der Magerkult der 90er und Nullerjahre ist überholt und längst vom schlanken, durchtrainierten und scheinbar gesunden Körperideal entthront.
Obwohl der Trend seit zwanzig Jahren beobachtet und benannt wird, hat es Orthorexie noch nicht als offiziell anerkannte Krankheit in die International Codification of Deseases (ICD) geschafft. Zu schwierig sei die Abgrenzung zwischen Diäten, „gesundem” Essen und Zwangsverhalten. Dass dahinter eine psychische Störung steckt, wird meistens erst zu spät bekannt, auch von den Betroffenen selbst. Im Gegensatz zu Anorexie versuchen Orthorektiker*innen nämlich nicht, ihre Ernährungsweise zu verstecken. Die gesunde Nahrungsaufnahme wird schließlich gesellschaftlich mit Anerkennung und Prestige belohnt, und der/die Orthorektiker*in in eigenen Verhalten bestätigt. Selfcare boomt.
Die Euphorie und der Stolz, auch das sind Begriffe, mit denen die Beraterinnen im Gesundheitszentrum etwas anfangen können. Die Abwärtsspirale der Essstörungen beginne immer mit Tatendrang und dem Ziel eines neuen, „besseren” Ichs. Die erste Phase der Orthorexie sei von Freude über die sich bald einstellenden Erfolge gekennzeichnet. Glücksgefühle werden ausgeschüttet, so Halhuber. Der Absturz komme erst später, wenn die diätetischen Maßnahmen nicht mehr anschlagen und verschärft werden müssen, um Ergebnisse zu erzielen oder halten zu können.
Die Diätologin Maria Benedikt hat in der Ernährungsmedizinischen Beratung im LKH in Salzburg noch keine Fälle der Orthorexie verzeichnen können. „Meistens brauchen diese Menschen psychologische Betreuung, was über meine Zuständigkeiten hinaus geht“, sagt sie. Untersuchungen unter Studierenden kamen zum selben Ergebnis: Das Phänomen Orthorexie ist ein Soziales. Akademikerkinder und Studierende sind dementsprechend häufiger betroffen als Kinder aus Arbeiterfamilien. Orthorexie als Wohlstandsproblem und Konsequenz des Überflusses?
„Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt”
Einkommen und Bildung spielen maßgeblich dabei mit, ein bestimmtes Wertgefüge vertreten zu können, bestätigt der Soziologe Beat Fux. In den akademischen Hallen der Uni Salzburg forscht er zu Vergleichender Sozialstrukturanalyse. Das trifft sich gut, denn: Die Sozialstruktur habe sich dahingehend verändert, dass mehr Leute in unseren Breitengraden die Möglichkeit haben, einen aufwendigen Ernährungseklektizismus zu betreiben, erklärt er. Dieser hänge stark mit dem Element der Identitätspolitik zusammen. „Man will in einer Subkultur leben und bastelt sich diese zurecht.“
Ernährung wird zur Herausbildung der eigenen Identität genutzt, in der man sich einigeln, von den anderen abheben und abschotten kann. Fux spricht in Anlehnung an Pippi Langstrumpfs „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“ Orthorektiker*innen leben in einer Glaubenswelt, an deren Richtigkeit am Ende nur noch sie selbst glauben. „Und ist das nicht auch eine Form von völliger Selbstüberschätzung? Jeder Arzt wird andere Ratschläge erteilen, wie man sich gesund ernährt. Trotzdem will man es nicht wahrhaben, weil es in das eigene ideologische Gebäude nicht reinpasst.“ Was bleibt, ist eine isolierte, aalglatte Identität gegen den Rest der Welt.
Wenn Ernährung Religion ersetzt
Das Glaubenskonstrukt gesunder Ernährung ist so für eine steigende Zahl an Menschen zu einer Ersatzreligion geworden. Mit religiösem Fanatismus wird eine Subkultur verteidigt, missioniert und propagiert. Influencer und selbsternannte Ernährungsspezialist*innen treiben den Hype in Foodblogs auf die Spitze. Viele Elemente finden sich auch in religiösem Kontext wieder, erklären Fux und Halhuber einstimmig. Selbstauferlegte Gebote im Ernährungsverhalten bis hin zu Verzicht bestimmter Lebensmittelgruppen erinnern an mittelalterliche Selbstkasteiung und Askese. Schuldgefühle bei sündigem Essverhalten und Buße im Sinne von noch strengeren Diäten und intensiverer sportlicher Betätigung entsagen jeglicher Lust und jedem körperlichen Genuss an Essen. Letzten Endes leidet sogar die Sexualität des erschöpften Körpers an der selbstkonstruierten neuen Religiosität.
„Wenn ich meine Glaubenssätze als einzig richtig akzeptiere, sehe ich sehr wohl einen Mehrwert darin,“ so Fux. Innerhalb des eigenen Glaubenssystems träumen Betroffene von Selbstoptimierung und dem besseren Ich. Außerhalb des Individuums bleibt dies meistens aus. Weil: „Ein Orthorektiker macht sich selbst kaputt“. Allerdings, ohne sich dessen bewusst zu sein. Fux treibt das Paradoxon auf die Spitze: Die Hoffnung auf Mehrwert und Leistungsfähigkeit geht nicht auf, weil die tatsächlichen Konsequenzen der Orthorexie Mängel und Erschöpfung bedeuten. Ein teilkapitalistisches Modell, wie Fux sagt. Weshalb es dennoch so verbreitet ist? „Jedes Ideal, das in Menschen Unzufriedenheit und Angst schürt, ist profitabel“, sagt Halhuber.
Im Falle von Orthorexie, die mit ökologischer und gesundheitlicher Korrektheit getarnt ist, gilt das Ablegen der eigenen Dogmen als besondere Herausforderung. Beat Fux überlegt. Wichtig sei die Erkenntnis, dass die eigene vermeintlich richtige Ernährung nur für einen gewissen Prozentsatz der Bevölkerung in Österreich überhaupt leistbar sei. Und dass die eigene Lehre falsch gewickelt sei und das bedeute lange und zeitraubende Psychotherapie. „Das kann man schwer von außen an die Person herantragen, sie muss diese Erfahrung selbst machen. Der Weg wird nur durch die Krise hindurchführen.“
Dieser Artikel ist von Veronika Ellecosta und erschien ursprünglich in unserem Stadtmagazin QWANT.
Kann gesunde Ernährung psychisch krank machen? Die Wissenschaft sagt ja und gibt dem Phänomen einen Namen: Orthorexie. Auf den Spuren eines Wahns zwischen Wohlstands- und Leistungsgesellschaft.
Seit 2014 hat Orthorexie ein Aushängeschild: The Vegan Blonde. Jordan Younger, die Frau hinter dem Blog, hat akribisch ihren Weg in den Veganismus notiert und Tausende Menschen inspiriert. Was aus den vorbildlichen Blogbeiträgen nicht hervorgeht: Durch ihre penible Auseinandersetzung mit Ernährung schnürt Jordan das Korsett immer enger. Am Ende isst sie frei von allem, Gluten, Öl, Zucker, Mehl, Saucen, verboten. Eines Tages geht in einer Juicebar ausgerechnet jener Smoothie aus, den sie sich zu konsumieren zugesteht. Sie bricht in Panik aus und verkündet öffentlich ihr Leiden an orthorektischem Verhalten.
Wenn gesundes Essen krank macht
Allgegenwärtige Informationen zur Ernährung, besonders in Zusammenhang mit Krankheiten und Leistungsfähigkeit, beeinflussen uns in unseren Essensentscheidungen. Orthorektiker*innen beschäftigen sich mehrere Stunden am Tag mit der Zubereitung, der Beschaffung und dem Konsum von möglichst gesunden Speisen. Qualität um jeden Preis ist die Devise und diese führt in Extremfällen in soziale Isolation. Gemeinsame Mahlzeiten und Kneipenabende mit Freund*innen werden ausgeschlagen, Lebensmittel verteufelt und Mangelerscheinungen diagnostiziert. Unter dem Deckmantel ökologischer und qualitativer Aspekte bleibt Orthorexie oft unerkannt, verbreitet ist sie dennoch mehr denn je.
Dieser Artikel ist zuerst in unserem Salzburger QWANT.Magazin 09/2019 erschienen. Hol dir jetzt dein Gratis-Abo!
Healthy is the new skinny
Im FrauenGesundheitszentrum Salzburg kann man davon ein Lied singen. Junge Frauen können sich hier in Fragen zu seelischer, sexueller und physischer Gesundheit beraten lassen. „Früher kamen Mädchen hierher, wenn sie Anzeichen von Magersucht aufgewiesen haben. Heute erklären sie uns zuerst lange und ausgiebig ihr gesundes Essverhalten“, weiß Aline Halhuber-Ahlmann, Politologin und Geschäftsführerin des FrauenGesundheitszentrum dazu. Was sie außerdem beobachtet: dass viele Patient*innen ausgerechnet über vegetarische und später vegane Ernährung in die Orthorexie schlittern. Der Magerkult der 90er und Nullerjahre ist überholt und längst vom schlanken, durchtrainierten und scheinbar gesunden Körperideal entthront.
Obwohl der Trend seit zwanzig Jahren beobachtet und benannt wird, hat es Orthorexie noch nicht als offiziell anerkannte Krankheit in die International Codification of Deseases (ICD) geschafft. Zu schwierig sei die Abgrenzung zwischen Diäten, „gesundem” Essen und Zwangsverhalten. Dass dahinter eine psychische Störung steckt, wird meistens erst zu spät bekannt, auch von den Betroffenen selbst. Im Gegensatz zu Anorexie versuchen Orthorektiker*innen nämlich nicht, ihre Ernährungsweise zu verstecken. Die gesunde Nahrungsaufnahme wird schließlich gesellschaftlich mit Anerkennung und Prestige belohnt, und der/die Orthorektiker*in in eigenen Verhalten bestätigt. Selfcare boomt.
Die Euphorie und der Stolz, auch das sind Begriffe, mit denen die Beraterinnen im Gesundheitszentrum etwas anfangen können. Die Abwärtsspirale der Essstörungen beginne immer mit Tatendrang und dem Ziel eines neuen, „besseren” Ichs. Die erste Phase der Orthorexie sei von Freude über die sich bald einstellenden Erfolge gekennzeichnet. Glücksgefühle werden ausgeschüttet, so Halhuber. Der Absturz komme erst später, wenn die diätetischen Maßnahmen nicht mehr anschlagen und verschärft werden müssen, um Ergebnisse zu erzielen oder halten zu können.
Die Diätologin Maria Benedikt hat in der Ernährungsmedizinischen Beratung im LKH in Salzburg noch keine Fälle der Orthorexie verzeichnen können. „Meistens brauchen diese Menschen psychologische Betreuung, was über meine Zuständigkeiten hinaus geht“, sagt sie. Untersuchungen unter Studierenden kamen zum selben Ergebnis: Das Phänomen Orthorexie ist ein Soziales. Akademikerkinder und Studierende sind dementsprechend häufiger betroffen als Kinder aus Arbeiterfamilien. Orthorexie als Wohlstandsproblem und Konsequenz des Überflusses?
„Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt”
Einkommen und Bildung spielen maßgeblich dabei mit, ein bestimmtes Wertgefüge vertreten zu können, bestätigt der Soziologe Beat Fux. In den akademischen Hallen der Uni Salzburg forscht er zu Vergleichender Sozialstrukturanalyse. Das trifft sich gut, denn: Die Sozialstruktur habe sich dahingehend verändert, dass mehr Leute in unseren Breitengraden die Möglichkeit haben, einen aufwendigen Ernährungseklektizismus zu betreiben, erklärt er. Dieser hänge stark mit dem Element der Identitätspolitik zusammen. „Man will in einer Subkultur leben und bastelt sich diese zurecht.“
Ernährung wird zur Herausbildung der eigenen Identität genutzt, in der man sich einigeln, von den anderen abheben und abschotten kann. Fux spricht in Anlehnung an Pippi Langstrumpfs „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.“ Orthorektiker*innen leben in einer Glaubenswelt, an deren Richtigkeit am Ende nur noch sie selbst glauben. „Und ist das nicht auch eine Form von völliger Selbstüberschätzung? Jeder Arzt wird andere Ratschläge erteilen, wie man sich gesund ernährt. Trotzdem will man es nicht wahrhaben, weil es in das eigene ideologische Gebäude nicht reinpasst.“ Was bleibt, ist eine isolierte, aalglatte Identität gegen den Rest der Welt.
Wenn Ernährung Religion ersetzt
Das Glaubenskonstrukt gesunder Ernährung ist so für eine steigende Zahl an Menschen zu einer Ersatzreligion geworden. Mit religiösem Fanatismus wird eine Subkultur verteidigt, missioniert und propagiert. Influencer und selbsternannte Ernährungsspezialist*innen treiben den Hype in Foodblogs auf die Spitze. Viele Elemente finden sich auch in religiösem Kontext wieder, erklären Fux und Halhuber einstimmig. Selbstauferlegte Gebote im Ernährungsverhalten bis hin zu Verzicht bestimmter Lebensmittelgruppen erinnern an mittelalterliche Selbstkasteiung und Askese. Schuldgefühle bei sündigem Essverhalten und Buße im Sinne von noch strengeren Diäten und intensiverer sportlicher Betätigung entsagen jeglicher Lust und jedem körperlichen Genuss an Essen. Letzten Endes leidet sogar die Sexualität des erschöpften Körpers an der selbstkonstruierten neuen Religiosität.
„Wenn ich meine Glaubenssätze als einzig richtig akzeptiere, sehe ich sehr wohl einen Mehrwert darin,“ so Fux. Innerhalb des eigenen Glaubenssystems träumen Betroffene von Selbstoptimierung und dem besseren Ich. Außerhalb des Individuums bleibt dies meistens aus. Weil: „Ein Orthorektiker macht sich selbst kaputt“. Allerdings, ohne sich dessen bewusst zu sein. Fux treibt das Paradoxon auf die Spitze: Die Hoffnung auf Mehrwert und Leistungsfähigkeit geht nicht auf, weil die tatsächlichen Konsequenzen der Orthorexie Mängel und Erschöpfung bedeuten. Ein teilkapitalistisches Modell, wie Fux sagt. Weshalb es dennoch so verbreitet ist? „Jedes Ideal, das in Menschen Unzufriedenheit und Angst schürt, ist profitabel“, sagt Halhuber.
Im Falle von Orthorexie, die mit ökologischer und gesundheitlicher Korrektheit getarnt ist, gilt das Ablegen der eigenen Dogmen als besondere Herausforderung. Beat Fux überlegt. Wichtig sei die Erkenntnis, dass die eigene vermeintlich richtige Ernährung nur für einen gewissen Prozentsatz der Bevölkerung in Österreich überhaupt leistbar sei. Und dass die eigene Lehre falsch gewickelt sei und das bedeute lange und zeitraubende Psychotherapie. „Das kann man schwer von außen an die Person herantragen, sie muss diese Erfahrung selbst machen. Der Weg wird nur durch die Krise hindurchführen.“
Dieser Artikel ist von Veronika Ellecosta und erschien ursprünglich in unserem Stadtmagazin QWANT.